Warum ich nicht mehr „Müller“ heiße…

„Waldemar Müller“ wurde am 12.5.1995 geboren. Es war Sommer. Uni Hildesheim: Theaterstudium, Projektsemester:

Wir arbeiten am Stück „Deutsche Hälse am Potsdamer Platz“, eine kabarettistische Show über die Wendezeit. Ich spiele einen „Bürohengst“ und  improvisiere eine lustige Szene. Wie könnten wir  die Figur nennen?
Matthias Günther, der Regisseur nimmt mich zur Seite und meint: 
„Ich hab ne Idee, kauf Dir mal „Waldemar Müller – ein deutsches Schicksal“ von Gaston Salvatore…“

Ein guter Tipp!
Das Buch (auch heute noch zu empfehlen, mit einem tollen Vorwort von Hans Magnus Enzensberger) besteht aus verschiedensten satirischen Erzählungen, die alle von einer einzigen Figur getragen werden: „Waldemar Müller“  –  der »typische Deutsche«, der nirgends recht dazugehört, sondern überall, in den großen Institutionen oder im kleinen Hinterzimmer, eher herumstolpert und gerade dadurch das sonst Verborgene grell sichtbar macht.“

„Der typische Deutsche !?“ –  mmmm, das passt zum Stück…gut, dann nennen wir ihn halt so…

Ein schnelle, aber folgenschwere Entscheidung, denn auch nach der Produktion  bleibe ich der Figur treu und dem Thema, das sie verkörpert.
So entwickle ich als „Müller“ noch während des Theaterstudiums diverse Comedynummern im Büromilieu, eine davon präsentiere ich sogar als Diplomprüfung

Ein nachträgliches Hoch auf die tolle Uni, an der man sich als „Müller“ diplomieren lassen kann: 

 

 

Und so ging es beruflich weiter, ich wollte auf die Bühne und „Waldemar Müller“ wurde mein Alter Ego.

Bis zum 4.9.2011. 
Ich war für die „St. Ingberter Pfanne“ nominiert, einen Kleinkunstwettbewerb, der nur auf den ersten Blick an die „Hintertupfinger Heugabel“, den „Binsinger Bierschlegel“ oder den „Kissinger Korkenzieher“ erinnert und nicht ganz unwichtig ist in der Branche.
Der Auftritt läuft leider nicht rund. Auf der Heimfahrt mache ich mir so meine Gedanken. Ich diskutiere mit einem Regisseur, der schlecht gelaunt beginnt, an meiner Figur herumzukritteln und da wir nicht über Kalorien, sondern Theater sprechen, denke ich mir:
„Von mir aus – wenn mir „Müller“ nicht mehr passt, dann schicke ich ihn in Rente!“

 Und plötzlich erinnere ich  mich an alte Zeiten, an andere, frühere Arbeiten, in denen ich nicht „Müller“ sein musste, sondern  z.B. „Macke“ sein durfte, August Macke, der Maler, in einem Filmessay mit Mohamed Mounier:

 

 

Oder noch früher, 1996 die Zeit mit Christian Marclay  am Bayerischen Staatsschauspiel. “ Les Sortiléges“, eine „Musik – Theater – Skulptur“:   

Hier der Pressetext:

„Der New Yorker Performance Künstler Christian Marclay hat im Fundus des Bayerischen Staatsschauspiels 1000 Objekte ausgesucht – darunter sind so alltägliche Gegenstände wie ein Stuhl, eine Flasche, ein Buch, ein Fahrrad, ein Sarg, ein Bett, eine Uhr, ein Kleidungsstück, ein Spazierstock, ein Vogelkäfig, ein Koffer und ein Tisch. Angeregt von Maurice Ravels „Lènfant et les sortilèges“ und Walt Disneys anthropomorpher Animation toter Gegenstände, erweckt Marclay seine Objekte in einer von Live-Musik begleiteten Choreografie zum Leben.“ 

 Die Süddeutsche Zeitung schrieb:

„“Im Gedächtnis bleiben Bilder von schlichter Schönheit und irritierender Absurdität… Marclay und seine hochprofessionelle Mannschaft haben es tatsächlich  geschafft und die Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt. Nur ungern sind wir aus diesem Traum am Ende aufgewacht.“

„Les Sortilèges“ war für mich eine extrem angenehme Ensemble-Erfahrung und tolle Arbeit (vielleicht sogar die beste überhaupt, an der ich in den letzten 25 Jahren als Performer beteiligt sein durfte).

Ich war jung, naiv und unbedarft – ich verspürte keinen Druck, denn mir war nicht wirklich bewusst, dass Christian  schon damals  eine ziemlich große Nummer im Kunstbetrieb war –  spätestens seit „The Clock“ (2011) ist er weltberühmt… 

Damals auf der Bühne fühlte sich alles einfach und unspektakulär an. Wir Performer waren die ganze Zeit nur damit beschäftigt, Objekte exakt  zu bewegen, zu tragen, hinzustellen, aufzuheben, zu verschieben – in einer punktgenauen, musikalischen Choreografie. Es ging darum, als Akteur „neutral“ zu sein, wie es Jaques Lecoq  oder Philippe Gaulier in ihren Schauspielschulen gelehrt haben –  also  auf der Bühne „nichts“ zu tun, nichts darzustellen, sondern nur zu „sein“ und so den Objekten eine Aura zu geben. 
Wie herrlich…

 Nach meiner Erkenntniss, dass ich künstlerisch etwas verändern sollte und mich die alte „Figur“einengt und nicht weiterführt, hat es  ein wenig gedauert, die Weichen umzustellen. 

Um so mehr freue ich mich nun, in Erinnerung an alte Zeiten auf eine neue Bühnenzeit als Comedian und Redner, in der ich wieder weniger „spielen“ muss, aber mehr „sein“ darf …

Armin Nagel

 


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